Human Retail – klingt komisch, ist aber so. Der grosse Heilsversprecher des Handels dagegen ist momentan die Digitalisierung. Einige Marktteilnehmer wollen so nah als möglich an den Kunden und vor allem an seine Daten. Andere Marktteilnehmer wollen durch die neuen Kanäle mehr Zielgruppen ansprechen, vorhandene Zielgruppen optimieren und Umsatzzahlen steigern. Der schleichende Niedergang, der trotz enormer Umsatzgrössen und vorhandener Umsatzsteigerungen da ist, soll eingeschränkt werden. Aber es ist nicht zu leugnen: Umsätze verschieben sich stetig mehr hin zu den Konzernen, „die Kleinen“ sterben langsam, der Onlinehandel zieht jetzt schon mehr als 10% des Gesamtumsatzes an sich.
Umsatzsteigerungen werden durch Preissenkungen und Marketingaufwand erzielt – und da können sehr viele Anbieter nicht oder kaum noch mithalten. Marktforschung wird immer effizienter – und scheitert doch mehr und mehr daran, dass sich die Lebensstile verändern und eine Einordnung nach Lebensalter langsam Unsinn wird. Marketinginstrumente sind effektiv – und scheitern doch immer mehr an der Masse der Zusendungen, der Bekanntheit der versteckten Werbebotschaften und an Plattitüden, die keiner mehr hören will oder an Typisierungen, die immer weniger der Realität entsprechen.
Und letztlich sind die Geschäftsmodelle Stationärer Handel, Multichannel, Crosschannel und Omnichannel selber die Gründe für das noch vorhandene Wachstum. Doch dieser stille Hype des Omnichannel-Geschäftsmodells, eine Mischung aus technologischer Errungenschaft und digitalem SchnickSchnack versandet, das Geschäftsmodell wird Alltag, die Automatisierung wird Standard, Künstliche Intelligenz wird Tagesordnung – und der Konsument hat sich an hyper-personalisierte Angebote gewöhnt und damit gelangweilt, lebt in einer Blase, wie es heutzutage in den Social Networks bereits bei der Meinungsbildung ist. Wer nur die digitalen Innovationen im Auge hat, der wird die Gesamtstrategie aus den Augen verlieren. Oder anders ausgedrückt: In Zukunft sind nicht die SEO-Spezialisten erfolgreich, sondern die Unternehmen, die Technologie gezielt nutzen, um den Menschen zu erreichen: Human Retail. Die Rückkehr zum Menschen nach der digitalen Transformation.
Doch was geschieht jetzt? Der Handel lernt die neuen Geschäftsmodelle und wer es kann, der nutzt sie auch. Daneben setzt sich verstärkt die Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) durch. Grosse Umsatzsteigerungen und / oder erhebliche Kosteneinsparungen werden dem Handel vorhergesagt, wogegen selbstfahrende Autos ein Katzendreck wären. Der (Noch-)Multichannel-Anbieter Otto hat bereits eine KI-Lösung in der Anwendung, die bis zu zehn Wochen im voraus mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% vorhersagt, wie oft ein bestimmtes Kleidungsstück in einer bestimmten Kalenderwoche bestellt wird. Neben dem Offensichtlichem bedeutet dies: Kleine und mittlere Händler müssen diese Entwicklung mitmachen, wenn sie gegen diese Retail-Giganten überhaupt noch eine Chance haben möchten.
KI setzt sich durch in der Logistik (Wann wo wie wem optimal die Ware zustellen?), in der Preisgestaltung (Dynamisches Pricing! Amazon setzt diese Systeme bereits ein, alle Fluggesellschaften mehr oder weniger zaghaft ebenfalls, Metro und andere Händler testen) und natürlich im Marketing (Personalisierung der Angebote, und zwar auch zeitlich und örtlich passend, nicht mehr nur thematisch). Die gesamte Wertschöpfungskette des Handels wird beeinflusst und verändert.
Doch was geschieht wirklich? Es ist und wird ein perverser Wettstreit des Kapitals, der Geschäftsmodelle und der Technik. Und es wird sich bis zur nächsten Generation irgendeiner Technik auf einem Niveau einpendeln, bei dem Stillstand entsteht – allerdings ein monopolistisch geprägtes Niveau zum Schaden der Konsumenten. Was geschieht noch? Wir tanzen auf einem Vulkan und freuen uns, dass wir warme Füsse haben. Schon heute leben wir alle hier in den so genannten zivilisierten Staaten auf Kosten der armen Länder und der unterprivilegierten Menschen. Rein logisch und mathematisch kann dieses goldene Kalb namens Wachstum nicht ewig weitergehen, ohne das es ständig mehr Verlierer und nur ganz wenige richtig reiche Gewinner geben wird. Ein Umdenken muss erfolgen und beginnt sich zum Glück als Megtrend abzuzeichnen: Neue Lebensstile (New Work), neue Unternehmenskulturen (Kreativ-Ökonomie):
Hier in Europa, hier in Deutschland müssen wir Arbeiten übernehmen, die in Asien nicht billiger erledigt werden und die Computer nicht schneller erledigen können. Arbeiten und Leistungen, die den ästhetischen, emotionalen und spirituellen Ansprüchen einer Wohlstandsgesellschaft entspricht. Nur dann kann eine moderne Volkswirtschaft wie die unsrige in der Zukunft wirtschaftlich überleben. Irreal? Während der vorerst letzten Wirtschafts- und Finanzkrise brachen die Branchen zusammen oder mussten durch Steuergelder gerettet werden, die als solide galten: Banken, Automobilhersteller, Versicherungen. Nicht zusammengebrochen sind die Märkte, die ästhetische, emotionale oder spirituelle Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Denn diese Märkte haben zwei ganz entscheidende Antriebe: Zentrale, menschliche Primärmotive und -bedürfnisse sowie Sinnhaftigkeit. Grundbedingungen des Human Retail.
Der Mensch sehnt sich in dieser hochtechnisierten Welt nach der unersetzlichen Empathie von Händlern und Beratern, die begeisternde Erlebnisse schaffen, und sei es auch nur: zuzuhören. Genau diese Kür, diese Empathie ist es und wird es immer sein, die für den stationären Handel elementar wichtig ist, um zu überleben und letztlich auch wieder in Führung zu gehen. Eine intelligente, smarte Handelslandschaft wird durch Vermittler menschlicher Sehnsüchte leben: Daten-Dolmetscher, Humanagenten, Kuratoren von Konsumenten. Aus der Symbiose von Mensch und Maschine entstehen künftig neue Lebens- und Geschäftsmodelle, die dem Menschen und seinen Emotionen Raum geben.
Wie aber sieht das in der Realität in Zukunft aus, konkret aus? Die Datenblasen der heutigen Zeit verhindern immer mehr Überraschungen oder andere Meinungsbilder, als die gewohnten. Bei der künftigen Bearbeitung der vielfältigen Kundendaten werden Empfehlungen von anderen Menschen, von Querdenkern, von Experten, von aussergewöhnlichen Vorlieben wichtiger, als je zuvor. Zukünftig werden Empfehlungen in Verkaufsmodelle integriert, die Neuigkeiten und kreative Brüche beim Shopping bieten. Der Händler wird Zeit haben oder sie sich nehmen, um Kundenreaktionen und das Wissen des Kunden anders als eine Maschine einzuordnen und Verbesserungen voranzutreiben. Der Mensch ist mehr und will mehr sein als sein eigenes, stationäres Datenmodell.
Human Retail – Der Weg ist vorgezeichnet: Smarte Technologien werden Alltag, die digitale Transformation endet. Durch diesen Wandel ändern sich die Berufsbilder im Handel, der Mensch rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Ästhetische, emotionale und spirituelle Märkte gewinnen elementare Bedeutung, Technik wird nebensächlich wahrgenommen. Geschäfte werden nicht mehr als Laden wahrgenommen, sondern als kreativer Lebensraum, achtsame und authentische Retail-Konzepte werden gelebt im neuen Human Age. Vermittler menschlicher Sehnsüchte werden wichtig. Integration, Kooperation, Kommunikation, Sinnhaftigkeit sind der neue Kompass.
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